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01.03.2023
Die Trauerpille kommt
Eine bedenkliche Entwicklung
Der Artikel "Wie lange sollte man trauern?" von Ellen Barry in der New York Times hat große Diskussionen in den USA ausgelöst. Denn die "Antwort" auf die Frage bestand darin, dass die American Psychiatry Association (APA) eine neue psychische Krankheit in ihr Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM) aufgenommen hat. Bei der neuen Krankheit handelt es sich um die trauerspezifische Diagnose "Prolonged Grief Disorder" (PGD), die es auch in Deutschland gibt.
Studien zeigen, dass ein kleiner Prozentsatz Trauernder unter einem klinisch auffälligen Trauerverlauf leidet und dass diese Gruppe von einer Behandlung profitieren würden. "Die Behandlung, so stellt sich heraus, ist eine Pille", sagt Donna Schuurmann, Autorin des hier beschrieben Artikels im Portal www.madinamerica.com.
Barry befürchtet nun, dass durch die neue Diagnose "große Geldmengen zur Erforschung von Behandlungsmethoden bereitgestellt werden ... und ein Wettbewerb um die Zulassung von Medikamenten durch die Food and Drug Administration Behörde ausgelöst wird". Diese Prozesse sind längst im Gang. Aktuell führt eine Gruppe von Wissenschaftler*innen eine klinische Studie mit dem Medikament "Naltrexon" durch. Die Studie sieht in der trauerspezifischen Erkrankung eine Suchterkrankung. Um die durch die Erinnerungen an den geliebten Menschen ausgelöste Sucht zu durchbrechen, testen sie Naltrexon. Dieses Medikament ist jedoch mit der strengsten Kennzeichnungsvorschrift vorsehen, die die Food and Drug Administration (FDA) überhaupt erlassen kann. Damit sollen Verbraucher*innen darauf hingewiesen werden, dass das Medikament schwerwiegende oder lebensbedrohliche Nebenwirkungen haben kann, wie etwa Leberschäden.
Die Auswirkungen einer medikamentösen Behandlung von PGD sind aus vielen Gründen besorgniserregend. Dazu gehört auch die immer stärker werdende Tendenz, menschliche Erfahrungen und Herausforderungen in psychische Erkrankungen umzuwandeln. Das DSM hat eine lange Geschichte, in der es vorgibt, wissenschaftlich zu sein, während es neue psychische Krankheiten schafft. Jede "psychische Störung" im DSM ist jedoch ein soziales Konstrukt, wie Thomas Insel, Direktor des National Institute of Mental Health von 2002-2015, erklärt: "Während das DSM als 'Bibel' für das Fachgebiet bezeichnet wurde, ist es bestenfalls ein Wörterbuch ... die Schwäche ist seine mangelnde Gültigkeit."
Und so fragt sich auch Schuurman, wie die Gesellschaft so weit kommen konnte, dass es eine trauerspezifische Diagnose gibt. Offensichtlich, so ihre Ansicht, braucht es noch viel Aufklärung zum Thema Trauer. Die aktuelle Entwicklung empfindet Schuurman auf jedem Fall als äußerst besorgniserregend. Denn am Ende sind es die Erinnerungen, die Menschen bleiben.
Den Originalartikel finden Sie unter:
www.madinamerica.com/2022/04/grief-pill-coming/