Die Transformationskraft der Trauer

Bericht einer Autorin über die Zeit mit ihrem todkranken Mann

Einzelner Baum im Gegenlicht vor nebligem Horizont

In einem Text im Portal psycholoytoday.com schreibt die Romanautorin Lynn Hightower über das letzte Jahr mit ihrem todkranken Mann und wie sie zu dieser Zeit einen Roman verfasste - über eine Frau, die ihren Mann verloren hatte und dessen mysteriösen Tod aufdecken wollte. Die Zeit der Trauer habe ihr dabei auch enorme Freiheit verschafft. Hier eine Zusammenfassung ihres Berichts in deutscher Sprache:

Die Liebe meines Lebens starb kurz vor dem Ausbruch der Corona Pandemie. Zu dem Zeitpunkt, als der Rest der Welt den Betrieb einstellte, hatte ich mich bereits in unser kleines Häuschen zurückgezogen, wo mein Mann und ich die letzten Jahre unserer Ehe isoliert verbracht hatten, schockierend glücklich in unserer winzigen kleinen Welt. Wir wussten, was kommen würde. Wir schlossen die Tür zu allem anderen.

Als wir von seiner Krankheit erfahren haben, haben wir diese nicht ausgeblendet. Aber als wir mit unserem Wüten und Jammern fertig waren, fiel alles andere weg. Es gab nur noch uns drei. Er und ich und unser deutscher Schäferhund Leo, der über uns wachte.

Meine Aufgabe war es, mich um alles und meinen Mann zu kümmern. Seine Aufgabe war es, zu überleben. Und manchmal nahm er meine Hand und fragte mich ... schreibst du?

Mein Name ist Lynn Hightower. Ich bin Romanautorin. Schreiben ist mein Beruf. Mein Mann, der mich besser kannte, als es jemals jemand tun wird, verstand das. Aber die Gelegenheiten zum Schreiben, ein täglicher Teil meines Lebens, waren selten geworden. Jeder Tag war anders, mit gelegentlichen großartigen Momenten und einer ganzen Menge weniger großartiger.

Und doch. Unser letztes Jahr war das romantischste Jahr in unserer Ehe.

Ich habe meinen Mann auf einer Dating-Website kennengelernt. Nach einer Weile zogen wir zusammen und schmiedeten den Plan, an einem Strand in Jamaika zu heiraten.

Wir hatten die üblichen Probleme. Seine Kinder. Meine Kinder. Er war nicht an ein Haus voller Tiere gewöhnt und war erst empört und dann amüsiert, als er sich als Nummer fünf wiederfand, nach dem Pferd, der Katze und zwei Hunden. Wir zogen durch das Land. Ich schrieb meine Romane und er brachte Produktionsanlagen auf Vordermann.

Und dann wurde er krank. Es war klar, dass sie sein Leben drastisch verkürzen würde. Er gab die Arbeit auf. Wir verkrochen uns in unserem kleinen Häuschen. Die Tage gehörten uns.

Wir weinten zusammen, als unser geliebter deutscher Schäferhund Leo starb, und wir freuten uns  Wochen später über unseren neuen deutschen Schäferhundwelpen Leah.

Und immer fragte er mich: „Schreibst du?“

Und so begannen unsere gemeinsamen Schreibnachmittage. Ich setzte ihn mit Leah und einer weichen, warmen Decke auf die Couch und schaltete in Endlosschleifen von Midsummer Murders ein. Dann machte ich es mir in meinem Lieblingssessel gemütlich, mit Notizbuch und Stift, und versank in der Welt meines Romans. Und wann immer ich aufblickte, beobachtete er mich. Wir nannten es Lynn TV.

So ging es lange Zeit bis er starb.

In der Trauer liegt eine enorme Freiheit. Eine erheiternde Autonomie. Wenn nichts von Bedeutung ist, wenn man kein Interesse an einer Zukunft hat und nichts mehr erhoffen kann, werden die Dinge einfach, und es ist eine reine Erleichterung. Man muss keine Antworten finden, wenn man keine Fragen hat.

Mein Leben beschränkte sich auf drei Dinge. Mit dem Hund spazieren gehen. Den Roman schreiben. Und dann war da noch diese dritte Sache. Die Idee, nach Frankreich zu fahren.

Der Roman nahm in meinem Kopf immer mehr Gestalt an. Doch ich wusste, dass ich ihn nie schreiben könnte - er wäre zu schmerzhaft, zu persönlich, zu privat. Ein Roman, in dem ich über eine Witwe schreibe, die ihren Mann verloren hat, der Franzose war.

Mein großer Bruder sagte mir, ich solle mutig sein. Und der Idee konnte ich nicht widerstehen. Also erhielt meine Heldin Junie Lagarde eines frühen Morgens einen Notruf, der sie nach Frankreich rief, um ihren vermissten Hund Leo zu finden und die Wahrheit hinter dem mysteriösen Tod ihres Mannes bei einem Flugzeugabsturz auf dem gefährlichsten Berg der Welt aufzudecken ... Mont Blanc.

Das entfachte das kreative Feuer. Es war eine Gabe der Trauer.

Es war nicht mehr meine Geschichte. Es war ihre. Aber ich ging mit ihr mit. Das wirkliche Leben trat in den Hintergrund, eine schöne Gnade. Ich wachte mitten in der Nacht auf, um zu schreiben, ich schrieb früh am Morgen, ich konnte keinen Spaziergang machen, ohne ein abgerissenes Blatt Papier und einen Stift in der Tasche zu haben. Meine Figuren nahmen ein Eigenleben an, wie sie es immer tun, und ich lebte in dem Roman, und es war herrlich. Ich schickte Junie in die Alpen, den Teil Frankreichs, den mein Mann am meisten liebte und der alles hat, was mir Angst macht - Gletscher voller Schnee und Eis, Lawinen, die tückischen, gefrorenen Höhen der Berge und tiefes, tiefes Wasser in den Seen.

Ich begleitete Junie, als sie ihren Kummer durchlebte, und stellte fest, dass sie einen Einblick hatte, der mich verblüffte. Mein Roman kannte mich besser, als ich mich selbst kannte. Junie gab den Dingen eine Stimme, die ich nicht ganz verstanden hatte. Sie sagte ihrem Mann jeden Tag, wie sehr sie ihn liebte, und wurde durch die Liebe getröstet, die er zurückschickte. Mir wurde klar, dass mein Mann dasselbe tat.

Junie war eigensinnig und kompromisslos. Junie hielt sich nicht an die Regeln des Trauerns. Und als sie ihre Autonomie in der Welt fand, tat ich das auch.

Junie schlief in den Pullovern ihres Mannes. Das tat ich auch. Sie bewahrte den Rasierer ihres Mannes im Badezimmer auf. Sie weigerte sich, sich von seinen alten Socken zu trennen, die sie in einer Schublade aufbewahrte, die sich kaum schließen ließ. Das tat ich auch. Sie trug ihren und seinen Ehering. Das tat ich auch.

Junie beschloss, die meiste Zeit damit zu verbringen, Flamenco-Gitarre zu spielen. Ich beschloss, die meiste Zeit mit Schreiben zu verbringen. Junie verkroch sich stundenlang und war in Gedanken versunken. Ich tat genau das Gleiche. Keiner von uns beiden konnte sich je daran erinnern, worüber wir nachdachten, aber es störte Junie nicht, also störte es mich auch nicht.

Dann verliebte sich Junie. Unerhört.

Aber Junie sagte, dass es ganz natürlich sei, sich in einen Mann zu verlieben, während man um einen anderen trauert. Junie war weise genug, um zu wissen, dass Trauer nicht etwas ist, das man durchsteht, sondern etwas, mit dem man lebt, und dass man seine wahre Liebe nie zurücklassen muss. Und wie könnte sie diesem neuen Mann in ihrem Leben widerstehen, der mich so sehr an meinen Mann erinnerte?

Endlich konnte ich nach Frankreich reisen. Ich fand eine Leichtigkeit und Zufriedenheit in Annecy. Junie weinte, als sie nach Frankreich zurückkehrte, weil sie so glücklich war, dort zu sein. Ich habe auf dem Rückweg geweint, weil ich nicht weg wollte.

Ich hatte ein langes und ernsthaftes Gespräch mit unserer inzwischen erwachsenen Schäferhündin Leah, die nicht zögerte, den Plan eines Jahres für immer in Frankreich zu unterstützen. Ich habe die Kunst verloren, irgendetwas über den Donnerstag hinaus zu planen, aber wir hoffen, dass wir es schaffen.

Und ich erinnere mich an die Stimme meines Mannes, so nah bei mir, so sanft, an einem besonders schrecklichen Tag. Alles ist perfekt, flüsterte er.

Das ist es auch irgendwie.

Den Originalartikel finden Sie unter:

https://www.psychologytoday.com/us/blog/pen-on-page/202403/alchemy-the-transformation-of-grief