Trauer in den Diagnosesystemen DSM-5 und ICD-11
Ärzte, Psychologen und professionelle Psychotherapeuten in aller Welt nutzen zwei in ihrer Bedeutung ähnliche Kataloge, um anhand der darin aufgeführten Kriterien nachvollziehbare Diagnosen erstellen zu können. Der eine Katalog trägt den Namen "Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen" (DSM), der andere den Titel "Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" (ICD). In Deutschland findet überwiegend das Klassifikationssystem ICD Anwendung. Beide Kataloge wurden in der jüngeren Vergangenheit überarbeitet, wobei in beiden Fällen auch die Aufnahme einer trauerspezifischen Diagnose im Raum stand.
Trauer im DSM-5
Im Jahr 2013 wurde die fünfte aktualisierte Version des DSM veröffentlicht. Sie enthält im Teil III eine trauerspezifische Forschungsdiagnose namens "Störung durch anhaltende komplexe Trauerreaktion" (Persistent Complex Bereavement Disorder, PCBD). Sie ist ausdrücklich nicht für die klinische Praxis gedacht, sondern stellt eine Diagnose dar, die erst noch weiter erforscht werden muss, bevor sie in die Praxis eingeführt wird. Somit enthält das DSM-5 keine eigenständige trauerspezifische Diagnose für die klinische Praxis. Es wurde jedoch eine Änderung vorgenommen, die Auswirkungen auf den Umgang mit Trauer hat. So wurde über den Wegfall des sogenannten Trauerausschlusskriteriums die Diagnose für die Depression erweitert. Damit können Trauernde schon zwei Wochen nach einem Verlust die Diagnose einer Depression erhalten, wenn entsprechende Symptome vorliegen, was zahlreiche Experten als äußerst kritisch ansehen.
Trauer in der ICD-11
m Mai 2019 verabschiedete die 72. Weltgesundheitsversammlung (WHA72) die elfte Neuauflage der ICD. Während der DSM bereits in die deutsche Sprache übersetzt wurde, wird derzeit noch an der deutschsprachigen Übersetzung der ICD-11 gearbeitet. Die ICD-11 soll aber am 1. Januar 2022 in Kraft treten. Der neue Katalog enthält eine trauerspezifische Diagnose namens Prolonged Grief Disorder (PGD). In zahlreichen Beiträgen wird heute schon die inoffizielle deutsche Übersetzung "Anhaltende Trauerstörung" verwendet. Eingruppiert wurde die Diagnose unter "Disorders specifically associated with stress“" mit der Kodierung 6B42. Wenn man die Diagnose aufruft, erscheint ein Fließtext. Dies stellt eine Neuerung dar, denn bisher glichen Diagnosen häufig Symptomchecklisten. In der Praxis ging es bei der Diagnostik dann auch um die Vorlage einer Mindestanzahl der Symptome von diesen Checklisten. Jetzt aber geht es um die Ausprägung typischer Dimensionen wie zum Beispiel den Kernsymptomen oder der Dauer. Experten haben diese Entscheidung mit den Aspekten klinische Benutzerfreundlichkeit und kulturübergreifende Anwendbarkeit begründet. Vereinfacht ausgedrückt glaubte man so, die trauerspezifischen Unterschiede zwischen den betroffenen Personen besser berücksichtigen zu können.
Die Einführung der trauerspezifischen Diagnose in der ICD-11 ist nicht unumstritten. Bisher wurden prolongierte Trauerreaktionen vielfach als Anpassungsstörung kodiert. Dieses Vorgehen kann sich zukünftig ändern und eine trauerspezifischere Behandlung durch ärztliche und psychologische Psychotherapeuten ermöglichen. Demgegenüber stehen Bedenken hinsichtlich einer zunehmenden Stigmatisierung von Trauernden. Zukünftig wird noch viel Forschung nötig sein, um einerseits die Validität, Nützlichkeit und Anwendbarkeit der neuen Diagnose zu bestätigen, aber andererseits auch die Auswirkungen, die die Einführung der Diagnose auf die Gesellschaft hat, zu ergründen.