Uneindeutige Verluste

Ambiguität ist ein Begriff, der in der Alltagssprache seltener Verwendung findet. Er bedeutet so viel wie Mehrdeutigkeit, Doppeldeutigkeit, Uneindeutigkeit, also dass zum Beispiel eine Situation uneindeutig ist.

Im Zusammenhang mit einem Verlust machen häufig mehr Menschen als gedacht genau diese Erfahrung. Menschen machen "uneindeutige" Verluste. Der englischsprachige Fachbegriff dafür lautet "ambigious loss". Er wurde von Prof. Dr. Pauline Boss geprägt. Es gibt es zwei Arten von uneindeutigen Verlusten.

1. Physisch: Ein Mensch ist physisch abwesend, bleibt aber psychisch präsent, weil es keine Bestätigung des Verbleibs gibt oder der Status 'tot' oder 'lebend' fehlt. Beispiele für diese Form uneindeutiger Verluste sind verschwundene Soldaten und Zivilisten im Krieg, verschwundene Personen bei Naturkatastrophen oder der Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haus. In einem solchen Kontext des Zweifels besteht die Hoffnung auf die Rückkehr der verlorenen Person weiter.

2. Psychologisch: Ein Mensch ist physisch anwesend, aber psychisch abwesend, zum Beispiel aufgrund von Gedächtnisverlust und kognitiver Beeinträchtigung infolge von Erkrankungen wie etwa Demenz, Autismus oder Verletzungen.

Uneindeutige Verluste unterscheiden sich von Todesfällen dadurch, dass ihnen der Abschluss bzw. die Gewissheit der Endgültigkeit fehlt, die die Anpassung an die veränderte Lebenssituation erst möglich macht. Die vermisste Person ist ja noch anwesend (zum Beispiel bei Demenz) oder könnte noch am Leben sein (zum Beispiel im Krieg verschollen). Betroffene fühlen sich hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Trauer. Uneindeutige Verluste können Ängste und Ambivalenzen verstärken, was sich auf die Fähigkeit der Familienmitglieder auswirkt, effektiv miteinander zu kommunizieren. Dies kann die Entscheidungsfindung innerhalb von Familien und die Bewältigungsprozesse blockieren. Familienmitglieder erleben häufiger eine Entfremdung voneinander. Viele fühlen sich wie gelähmt, bis sie ein gewisses Maß an Sinn und Hoffnung finden, auch wenn das Rätsel des Verlustes fortbesteht. Zudem erleben diese Betroffenen häufig, dass ihr Verlust weniger Anerkennung durch das soziale Umfeld erhält oder auch durch sie selbst. Uneindeutige Verluste können Trauerprozesse schwerer gestalten, weil die Art des Verlustes den Prozess beeinflusst. In schwerwiegenden Fällen können klinisch bedeutsame Probleme auftreten.

Pauline Boss schlägt vor, dass sich Betroffene mit oder ohne Hilfe von Fachkräften Gedanken über folgende Fragen machen, um sich in ihrer Situation weniger ausgeliefert zu fühlen:

  • Was bedeutet diese Situation für mich?
  • Wie kann ich mit dem umgehen, was ich nicht kontrollieren kann?
  • Wer bin ich jetzt mit der Erfahrung eines uneindeutigen Verlustes?
  • Was mache ich mit meinen widersprüchlichen Gefühlen? Ich bin froh, dass sie noch leben könnte, aber ich bin wütend, dass ich mich so gefangen fühle. Manchmal wünsche ich mir, es wäre vorbei. Und jetzt fühle ich mich schuldig, weil ich das denke.
  • Wie kann ich den Verlust zulassen und mich trotzdem erinnern?
  • Was gibt mir Hoffnung im Umgang mit dem uneindeutigen Verlust?