Die Suche nach Sinn
Wenn ein Mensch stirbt, fallen die Reaktionen auf den Verlust bzw. fällt der Trauerprozess sehr unterschiedlich aus. Das hängt nicht nur damit zusammen, wie die Beziehung zur verstorbenen Person war und wie schwerwiegend der Verlust erlebt wird, sondern auch damit, in welchem Maße das persönliche Sinn- und Bedeutungssystem erschüttert ist und von den Betroffenen neu errichtet werden muss.
Mit dem Tod einer Bezugsperson beginnt für Hinterbliebene meist ein Bemühen, das Erlebte zu verstehen, um es sinnvoll in die eigene Weltsicht einzuordnen. So stellen sich Betroffene häufig die Frage nach dem "Warum" ("Warum musste jemand sterben?"). Stirbt jemand plötzlich oder auch auf gewaltsame Weise, dann kann sich diese Frage umso drängender stellen ("Warum hat sich jemand das Leben genommen?"). Darin zeigt sich, dass das Erfahrene als sinnlos erlebt wird und zunächst nicht in die eigene Biografie eingeordnet werden kann. Andere konkrete Fragen, mit denen sich Betroffene nach dem Tod einer Bezugsperson auseinandersetzen, können Fragen beispielsweise nach der Todesart umfassen ("Wie ist jemand gestorben?"), aber auch Fragen der Identität berühren ("Wer bin ich ohne meinen Partner?") sowie spirituelle/existentielle Fragen beinhalten ("Wie konnte Gott meinen Sohn sterben lassen?"). Die Antworten, die Betroffene finden, werden dabei nicht nur durch individuelle Faktoren wie etwa die Persönlichkeit, das eigene Geschlecht beeinflusst, sondern auch durch soziale (zum Beispiel das persönliche Umfeld) und kulturelle Aspekte (zum Beispiel die Staatszugehörigkeit). Betroffene interpretieren das Erlebte, um es zu verstehen. Dabei werden individuelle, soziale und kulturelle Ansichten immer gegeneinander abgewogen. Situationen, die Menschen besonders deutlich zeigen, wie zerbrechlich die Welt ist und dass jedes Leben endlich ist, auch das Nahestehender sowie das eigene, lassen häufig überindividuelle und ich-transzendente Sinnfragen und -inhalte besonders in den Vordergrund treten.
Das Erfahren von Sinn ist für Menschen wichtig. Denn Sinn bedeutet, mit sich selbst, anderen und der Welt verbunden zu sein. So erhält ein Wort nur Sinn, wenn es einen Gegenstand benennt und andere Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, dieses Wort verstehen und damit auch diesen Gegenstand verbinden. Sinn entsteht auch, wenn Erfahrungen in einer Verbindung zu Zielen und Werten gesehen werden können. Die Frage nach dem Sinn eines einzelnen Begriffs oder Satzes ist dabei aber weniger komplex als die Suche nach dem Sinn eines Ereignisses oder nach dem Sinn des eigenen Lebens sowie des menschlichen Lebens generell. Werden kritische Lebensereignisse und ihre Folgen auf bejahende Weise in das individuelle, soziale und kulturelle Bedeutungsgeflecht aus Erklärungen, Überzeugungen, Werten und Zielen eingebunden, können Hinterbliebene für sich Sinn erleben. Dies ist ein komplexer Vorgang. Dabei kommt es beispielsweise darauf an, in welchem Umfang Betroffene immer wieder über die Fragen nachgrübeln ("weniger ist dabei mehr"), welche Form der Unterstützung sie von ihrem sozialen Umfeld erhalten, wie sie die neue Verbindung zur verstorbenen Person gestalten und wie sie über sich und andere denken.
Die Herstellung von Sinn ist ein prozesshaftes Geschehen, das nicht linear verläuft. Einige Hinterbliebene erleben die Frage nach dem "Warum" als sehr belastend und für viele Betroffene kann dieser Prozess länger andauern als sie meinen. Doch für zahlreiche Hinterbliebene kann Sinnfindung sogar beinhalten, dass sie an einem kritischen Lebensereignis wachsen.