Irrtümliche Annahmen über Trauer

Gesellschaftlich breit verankerte Vorstellungen über Trauer beeinflussen sehr stark die Art und Weise, wie Hinterbliebene trauern, was sie von sich selbst erwarten aber auch was ihr Umfeld von ihnen erwartet.

Bei einigen weit verbreiteten Vorstellungen über Trauer handelt es sich jedoch um unzutreffende Annahmen, Klischees oder Stereotypen. Fachleute sind dabei mitverantwortlich an der Entstehung und Verbreitung solcher Irrtümer. So können trotz bester Absicht aller Beteiligten schwerwiegende Folgen entstehen: zum Beispiel indem eigentlich normale Reaktionen als bedenklich, ja pathologisch und behandlungsbedürftig definiert werden und damit Prozesse in Gang setzen, die die Verlustreaktion unnötig verkomplizieren.


Beispiele für stereotype oder irrtümliche Annahmen über Trauer

Annahme 1:
Kummer und Leid über einen längeren Zeitraum ist zwangsläufiger Bestandteil von Trauer. Tritt dies nicht in ausreichendem Maße auf, ist das ein Anzeichen von Verdrängung oder Verleugnung.

Eine weit verbreitete Vorstellung von Trauer ist, das ein bestimmtes Maß an seelischem Schmerz notwendig ist, um einen bedeutsamen Verlust zu überwinden. Menschen, die ihren Kummer nicht öffentlich zeigen oder die einfach recht schnell wieder in ein seelisches Gleichgewicht zurückfinden, welches ihnen ermöglicht, den Alltag zu bewältigen, geraten dabei unter Verdacht, einen notwendigerweise schmerzhaften Prozess zu vermeiden und dadurch langfristig ein Problem zu bekommen.

Annahme 2:
Trauer entwickelt sich in einer Abfolge von Phasen

Die Vorstellung, dass Trauer gesetzmäßig in einer Abfolge von Phasen verläuft, geht zurück auf die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross und hat im Laufe der Zeit Eingang in Ratgeber- und Lehrbücher und in das Allgemeinwissen gefunden.

Wissenschaftliche Untersuchungen konnten jedoch einen solchen Ablauf in Phasen nicht bestätigen. Stattdessen wird der Trauerprozess heute verstanden als ein Pendeln zwischen verschiedenen Zuständen und Themen.

Annahme 3:
Trauer hat ein Ende

Eine verbreitete Annahme besteht darin, dass "normale Trauer" nach einer mehr oder weniger langen Zeitspanne beendet ist und der Mensch wieder so ist wie vor dem Verlust. Danach sei ein vollständiges Abklingen aller Trauerreaktionen, vergleichbar der Genesung von einer Erkrankung, zu erwarten. Zu langes Trauern gilt als pathologisch.

Studien zeigen jedoch, dass es eher typisch ist, dass der sich Verlust auch nach Jahren noch auswirkt, wenn auch nicht mehr so intensiv.

Annahme 4:
Ohne bewusste "Trauerarbeit" geht es nicht

Von Sigmund Freud stammt der Begriff der Trauerarbeit. Er hat sich tief in unserem Allgemeinverständnis von Trauer festgesetzt: Entsprechend häufig begegnet man auch der Annahme, dass Menschen Trauerarbeit leisten müssten, um über einen Verlust hinweg zu kommen. Gemeint ist damit meist, dass Menschen sich bewusst schmerzhaften Gefühlen und Gedanken stellen müssen, damit sie bearbeitet und so gelöst werden können. Dazu gehört auch die Bereitschaft, seine Gefühle anderen Menschen gegenüber zu zeigen und darüber zu sprechen.

Untersuchungen konnten diese Annahme nicht bestätigen. Menschen, die sich in diesem Sinne verhielten, verarbeiteten ihren Verlust ebenso gut wie solche, die die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle, die mit dem Verlust zusammenhingen, eher vermieden.

Annahme 5:
Es ist wichtig, sich emotional vom Verstorbenen zu trennen

Lange Zeit war es herrschende Lehrmeinung, dass Trauerarbeit erst dann ihren Abschluss finden könne, wenn es Trauernden gelang, ihre emotionale Bindung zum Verstorbenen zu lösen, um so wieder frei für neue Bindungen zu sein und im Leben nach vorne blicken zu können.

Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis jedoch immer mehr durch, dass es ganz normal ist, wenn Hinterbliebene langfristig eine Bindung an den Verstorbenen aufrechterhalten - wenn auch in einer gewandelten Form.

Statt einfacher Antworten: ein Ringen um Balance zwischen Gegensätzen

Grundannahmen und Erwartungen sind wichtige Orientierungshilfen, gerade wenn Menschen in Situationen geraten, die neu für sie sind. Problematisch werden sie, wenn sie für komplexe Sachverhalte nur einseitige Erklärungen und Handlungsempfehlungen liefern; wenn sie zu Stereotypen werden, an denen individuelle Reaktionen gemessen und gewertet werden oder wenn sie schlicht falsch sind.

Der deutsche Psychologe Hans Goldbrunner* beschreibt den Wunsch, Trauer mit Hilfe von einfachen und eindeutigen Grundannahmen zu erfassen als verständlich aber nicht erfüllbar. Er sieht gerade im Ringen um die Ausgewogenheit zwischen verschiedenen Kräften ein wesentliches Merkmal von Trauer: zum Beispiel dem Austarieren zwischen Aushalten und Vermeiden von Schmerz, zwischen Gefühl und Verstand, Aktivität und Passivität, Ablösung und Bindungserhalt.

* Goldbrunner, H. (2006). Dialektik der Trauer: Ein Beitrag zur Standortbestimmung der Widersprüche bei Verlusterfahrungen. Münster: Lit Verlag