Distanzierung von Sterben, Tod und Trauer

Ist Trauer wirklich ein Tabu?

Es ist oft zu hören, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die die Themen Sterben, Tod und Trauer verdrängen würde, es ist sogar oft von einem Tabu die Rede. Betrachtet man die Themen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels deutet vieles weniger auf ein Tabu oder eine Verdrängung hin als vielmehr auf eine Distanzierung von den Bereichen Sterben, Tod und Trauer. Doris Wolf, die Autorin eines populären Ratgebers* formuliert dies so: "Über Tod und Trauer spricht man nicht. Wir lernen nicht, zu trauern, die Trauer anzunehmen und zu durchleben. Stattdessen lernen wir, unsere Trauer zu verstecken oder gar zu leugnen."


Veränderungen im Bereich Sterben, Tod und Trauer

Für viele ältere Menschen war es als Kind noch selbstverständlich beispielsweise bei einem Sterbenden dabei zu sein, den Toten im offenen Sarg aufgebahrt zu sehen, ihn zu berühren und sich von ihm persönlich zu verabschieden. Für einige Menschen ist das heutzutage schwer vorstellbar. Das mag daran liegen, dass die Menschen gegenwärtig erst in sehr viel höherem Lebensalter das erste Mal mit Sterben und Tod in Berührung kommen, und somit in der Folge auch seltener. So lag das mittlere Sterbealter im Jahr 2004 bei 76 Jahren, das sind 4,2 Jahre mehr als noch 1980. Das Sterbealter ist aber nur ein Bereich, in dem sich viel verändert hat: auch die Sterbeorte, Todesursachen, der Umgang mit den Toten, der Umgang mit Trauer haben sich gewandelt. Insgesamt lassen sich in vielen Bereichen über die Jahre hinweg Veränderungen im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer beobachten, die sich im Zusammenspiel von Individualisierungstendenzen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, wie zum Beispiel dem medizinischen Fortschritt oder dem Traditionsabbruch, entwickelten.


Distanzierung statt Tabu

Die Veränderungen fassen einige Wissenschaftler mit dem Wort Distanzierung zusammen. Damit ist gemeint, dass Menschen bedingt durch die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen mehr Abstand zu den Lebensbereichen Sterben, Tod und Trauer haben. Ohne eine unmittelbare Betroffenheit muss heute jeder Mensch für sich entscheiden, wie viel Abstand zu den Themen für ihn richtig ist. Ob man, von diesen individuellen Entscheidungen her kommend, deshalb generell von einer Gesellschaft sprechen kann, die den Tod verdrängt oder tabuisiert, ist jedoch fragwürdig.


Menschen wissen oft zu wenig über Trauer

Fehlende Erfahrung mit und fehlendes Wissen über ein Thema führt häufig zu sehr vereinfachten Annahmen und Stereotypien. Je weniger Menschen aus eigener Erfahrung und Auseinandersetzung mit einem Thema wissen, umso mehr sind sie anfällig für Verallgemeinerungen und irrtümliche Annahmen. Auch in Bezug auf Trauer verfügen Menschen oft nur über vage, mehr oder weniger bewusste Erfahrungen und Einschätzungen darüber, welche Reaktionen und welches Verhalten nach einem bedeutsamen Verlust angemessen sind, welche Bewältigungsstrategien hilfreich und was möglicherweise ungünstig oder gar krankhaft ist.


Betroffene orientieren sich durch Bücher und Trauerbegleitung

Eine wachsende Fülle an Ratgebern steht zur Verfügung, um Interessierten durch Informationen und Handlungsanleitungen Hilfestellung zu geben. Problematisch an intuitivem Laienwissen, teilweise auch an dem in Ratgebern vermittelten Wissen ist, dass es der Vielfalt möglicher Verlustsituationen nicht gerecht wird und dass in einseitiger Weise Vorschriften daraus abgeleitet werden, wie Menschen nach einer Verlustsituation fühlen und sich verhalten sollten. Trauerbegleitung bietet Betroffenen einen Rahmen, um eine "trauersensiblere" Orientierung für ihr eigenes Erleben zu bekommen. Damit liegt der Auftrag jedoch in erster Linie wieder bei denen, die den Verlust erleiden: Sie müssen sich auf den Weg machen und nach geeigneten Angeboten suchen.


Gesellschaftlicher Auftrag: ein differenziertes Bild von Trauer zeichnen

Ein anderer Ansatz besteht darin, in der öffentlichen Diskussion, zum Beispiel durch die Medien und durch Bildungsprogramme, ein differenziertes, durch empirische Forschung belegtes Bild von dem zu vermitteln, was Hinterbliebene nach einem Verlust durchleben und wie sie unterstützt werden können. Ganz besonders wichtig, dies betonen Trauerexperten immer wieder, ist dieser Bildungsauftrag für Menschen, die beruflich direkt und indirekt mit Menschen nach einem Verlust arbeiten, wie zum Beispiel Ärzte, Psychologen, Seelsorger, Pflegekräfte, Erzieher usw. Sie sollten sich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer auseinandersetzen, damit Trauernde ein informiertes Umfeld haben, in dem sie sich mit ihrem Erleben und ihren Bedürfnissen gesehen, verstanden und unterstützt erleben können.

* Doris Wolf (2006). Einen geliebten Menschen verlieren. Vom schmerzlichen Umgang mit der Trauer. Mannheim: PAL (13. Auflage), Seite 13.