Existenzielle Reflexionen und persönliches Wachstum

Verlust als Anlass

Einzelne Blume mit lila Blüte wächst aus dem Asphalt

In einem Artikel im Portal psychologytoday.com schildert ein Betroffener seinen Trauerprozess nach dem Tod seines Vaters:

Mein Name ist Louis Hoffmann und Anfang dieses Jahres ist mein Vater verstorben. Als Therapeut, der sich intensiv mit Trauer befasst hat, und als Mensch, der in den letzten Jahren viele Verluste erlebt hat, war dies in gewisser Weise vertrautes Terrain für mich. Dennoch ist jeder Trauerprozess einzigartig. Nach dem Tod meines Vaters begann ich, Briefe zu schreiben, um meine Trauer zu verarbeiten. Während sich die ersten Briefe auf meinen Vater konzentrierten, beschäftigten sich die späteren Briefe zunehmend mit existenziellen Fragen, z.B. wie sich mein Platz in der Welt ohne ihn verändert hat. Obwohl dies ursprünglich nicht geplant war, wurden diese Briefe an meinen Vater schließlich zu einem Buch: „Letters for My Father: Grief, Love, and Self-Reflection”.

Beim Schreiben dieses Buches beschloss ich, Olivia Michael und Edbury Enegren einzuladen, einen Abschnitt über das Thema Trauer zu schreiben. Sie schrieben über die Sinnhaftigkeit und existenzielle Fragen.

Der Trauerprozess kann uns dazu bringen, uns auf tiefgreifende Weise mit unserer Existenz auseinanderzusetzen. Dennoch ist es üblich, sich vielen dieser Möglichkeiten zu widersetzen, aus Angst, dass wir die verstorbene Person entehren, die Trauer vermeiden oder egoistisch sind. Die Reflexion über diese Möglichkeiten kann jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Trauer und eine Art existenzielles Geschenk sein. Das macht den Verlust nicht zu etwas Gutem, sondern wir können den Schmerz des Trauerprozesses, in den wir geworfen werden, zum Erkenntnisgewinn nutzen.

Meine eigene Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen hat mir und vielen meiner Beziehungen gutgetan. Indem ich mich dem Trauerprozess direkt gestellt und mich von ihm leiten lassen habe, konnte ich erkennen, inwiefern ich nicht im Einklang mit meinen Werten lebte. Ich erkannte Bereiche in meinem Leben, in denen ich mich mit weniger zufrieden gab und schmerzhaften Realitäten auswich, und wurde in anderen Bereichen bestärkt, in denen ich mich besser entwickelte und wuchs.

Diese Auseinandersetzung hat mir geholfen, ein besserer Therapeut, Professor, Vorgesetzter und Freund zu werden. Viele dieser Lektionen hätte ich ohne die Offenheit gegenüber den Fragen vielleicht verpasst oder erst später gelernt.

Trauer bietet die Möglichkeit, die eigenen Beziehungen und Beziehungsbedürfnisse zu hinterfragen. Trauer bedeutet einen Verlust oder eine Veränderung in unserem Beziehungsgeflecht. Dies kann zu Lücken in unserem Unterstützungssystem führen oder uns die Grenzen wichtiger Beziehungen bewusst machen. Sie kann uns helfen, Veränderungen zu erkennen, die wir in unseren Beziehungen vornehmen sollten. Bedeutende Verluste führen auch zu einer Veränderung unseres Selbstverständnisses und unserer Persönlichkeit.

In „Letters for My Father“ habe ich viele schöne und bedeutungsvolle Seiten meiner Beziehung zu meinem Vater beleuchtet. Er war ein wunderbarer Mensch, der die Welt und viele Menschen positiv beeinflusst hat. Er war aber auch nur ein Mensch, und manche seiner menschlichen Schwächen haben mir wehgetan. Unsere Beziehung konnte nicht die Tiefe erreichen, die ich in vielen anderen Beziehungen hatte.

Die Reflexion über die Grenzen der Beziehungsintensität mit meinem Vater führte dazu, dass ich untersuchte, wo Beziehungsintensität in anderen Beziehungen in meinem Leben vorhanden war und wo sie fehlte. Auch bei Fällen, in denen ich von meinen eigenen Werten, die auf Beziehungsintensität ausgerichtet sind, abgewichen war. Diese Trauer um meinen Vater hat Aspekte meines Lebens und meiner Beziehungen neu belebt und mir gleichzeitig andere Verluste im Zusammenhang mit Beziehungsintensität bewusst gemacht, wie zum Beispiel das Scheitern einiger Beziehungen.

Der Tod einer wichtigen Person veranlasst uns, über unsere eigene Sterblichkeit nachzudenken. Als Therapeut habe ich beobachtet, wie manche Menschen sich dagegen wehren und andere sich darauf einlassen. Viele tun ein bisschen von beidem. Über die eigene Sterblichkeit nach einem Verlust nachzudenken, ist nicht egoistisch, sondern eine Gelegenheit, unsere Trauer konstruktiv zu nutzen. Viele dieser Überlegungen sind allgemein bekannt, wie zum Beispiel, den Menschen, die wir lieben, Priorität einzuräumen und mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Andere sind eher individuell.

Trauer ist eine existenzielle Unvermeidbarkeit. Die paradoxe Natur der Trauer offenbart, wie Liebe und der Schmerz des Verlusts untrennbar miteinander verbunden sind. Sich den existenziellen Fragen der Trauer zu öffnen, kann den Trauerprozess erleichtern. Die Vorteile und Wachstumschancen nehmen weder den Schmerz weg noch verherrlichen sie den Verlust, aber sie können dazu beitragen, unser Leben und unsere Beziehungen zu bereichern, während wir den Trauerprozess durchlaufen.

Den Originalartikel finden Sie unter:

https://www.psychologytoday.com/us/blog/existence-in-context/202512/the-contingencies-of-grief